In meinem Artikel über den Speziesismus habe ich über den Entzug der Wertzuschreibung von Tieren und der geltenden Hierarchie, in der Menschen über allen anderen Spezies stehen, berichtet. Nun zeige ich die Diskriminierung von Tieren im Sinne des Karnismus auf.
Was ist der Karnismus?
Der Karnismus ist als Erweiterung des Speziesismus zu verstehen und steht für die Überzeugung, dass es selbstverständlich ist, zumindest manche Tiere zu essen. Wir wachsen damit auf, dass Fleisch essen 1. normal, 2. natürlich und 3. notwendig sei, vor dem Hintergrund, dass Tiere weniger wert sind und keine gleichwertige Behandlung verdient haben. Der Speziesismus wird dadurch vorausgesetzt und rechtfertigt den Karnismus. Diese „Drei Ns“wurden von Melanie Joy entwickelt und decken auf, wie fest verankert Fleisch essen in der gesellschaftlichen Vorstellung zur „Normalität“ gehört. Erziehung und Bildung, Politik und Kultur prägen und sozialisieren uns. Die Werte, die Menschen hinsichtlich von Traditionen besitzen, werden durch den Karnismus ebenfalls beeinflusst. Es entstehen Überzeugungen, in denen bestimmte Tiere bestimmten Jahreszeiten, Anlässen und Feiertagen zugeordnet werden und ohne zu hinterfragen verzehrt werden und die Kultur aufrechterhalten bleibt.
Welche Stellung nimmt er ein?
Fleisch von toten Kaninchen, Kühen, Schafen, Schweinen, Gänsen, Enten, Puten, Fischen und anderen Meerestieren zu verarbeiten und zu verkaufen, wird in der deutschen Gesellschaft politisch und wirtschaftlich subventioniert und von den VerbraucherInnen gekauft und verzehrt. Der Großteil der Bevölkerung verbindet mit diesen Tieren nicht mehr als „Lebensmittel“. Die Tatsache, dass Menschen einige, ausgewählte Tierarten als essbar deklarieren, andere jedoch als Haustiere halten und diese als nicht essbar ansehen, sogar Ekel empfinden, bei dem Gedanken, sie zu verzehren, lässt die Frage aufkommen, warum Menschen bei diesen ausgewählten essbaren Tierarten keine Abneigung empfinden.
Der Karnismus kann als eine Ideologie verstanden werden, in der sich Überzeugungen und Einstellungen entwickelt haben, die es legitimieren, „Nutztiere“ zu essen. Da alle Tiere lebensfähige und leidensfähige Wesen sind, erfordert es eine gewisse Konditionierung der Abstumpfung bis die wahren Gefühlen verdrängt werden können und die Realität nicht mehr als solche wahrgenommen wird. Diese wird von Institutionen, den Medien und gesellschaftlichen Debatten unterstützt, indem die drei Ns vermittelt werden.
Gedankenexperiment zum Nachdenken und Weitergeben
Melanie Joy entwickelte zur Erläuterung des Karnismus ein Gedankenexperiment, das helfen kann, auf den Karnismus aufmerksam zu machen.
Stell dir vor, du bekommst bei einem Abendessen gesagt, dass das Geschnetzelte auf deinem Teller, das du als schmackhaft empfindest, gar kein (wie vorerst angenommen) Rindfleisch, sondern Hundefleisch ist. An der Zutat (geschnetzeltes Muskelfleisch eines Tieres) hat sich nichts geändert, dennoch ruft die unerwartete Information, dass es sich um Fleisch eines anderen Tieres handelt, Emotionen hervor, die unserer Wahrnehmung vermitteln, dass eben jenes Geschnetzelte auf dem Teller nicht mehr weitergegessen werden kann.
Das Problem der Wahrnehmung liegt darin, dass sie das Empfinden der Wirklichkeit beeinflusst. Sie bestimmt, wie wir Situationen bewerten und welche Bedeutung wir ihnen zumessen und infolgedessen handeln. Das Wissen darüber, dass Hundefleisch auf dem Teller liegt, ruft eine andere Empfindung und Handlung hervor. Das hängt damit zusammen, dass Kühe keine anerkannten Haustiere sind, zu denen eine emotionale Bindung aufgebaut wird. Dennoch unterscheiden sich Kühe von Hunden nicht derart, dass der Verzehr ausschließlich einer Art gerechtfertigt werden könnte. Lediglich die Grenze, die Menschen ziehen, lässt einen Unterschied erkennbar werden.
Warum wir Kühe, aber keine Hunde essen
Die Grenze ist den sozialen Kategorien geschuldet, die wir bilden, um unsere Außenwelt leichter zu erfassen und sich in ihr zurechtzufinden. Aus diesem Grund werden Tiere verschiedenen, erlernten und konstruierten Kategorien zugeordnet, die sie in essbar oder nicht essbar einteilen. Die Zuschreibung des Rindes zu der Kategorie des Nutztieres stoppt weitere Emotionen, da es als Nahrungsmittel wahrgenommen wird. Hunde sind in der Gesellschaft der Kategorie des Haustieres zugeordnet. Daher kann bei der Vorstellung sie zu essen, die Wahrnehmung, die sich Menschen als sicheren Schutz aufgebaut haben, nicht standhalten. Die Folge ist ein Bild eines lebendigen Tieres vor unserem geistigen Auge; es entsteht Ekel aus dem vorangegangenen Gefühl des Mitleids.
Das System des Karnismus steuert Menschen, bei einigen Tieren nichts zu fühlen. Da Tiere den Menschen von Grund auf etwas bedeuten und ähnlich sind, wird dabei die Empathie, die normalerweise an die Oberfläche kommen würde, unterdrückt.
Eine Rolle spielt dabei die Betäubung, die sich die Gesellschaft antrainiert hat. Sie wird genutzt, um Gewalt zuzulassen. Indikatoren für diese Betäubung drücken sich durch Vermeidung, Verleugnung, Rechtfertigung, Routinisierung, sowie Entindividualisierung und Verdinglichung von Tieren aus. Durch die beschriebene Verzerrung der Wirklichkeit, die Betäubung der Emotionen sowie die kulturellen Strukturen entsteht Apathie, welche die drei Ns unterstützt.
„Wenn unsere Einstellung und unser Verhalten gegenüber Tieren derart widersprüchlich ist und diese Widersprüchlichkeit derart unhinterfragt bleibt, dann können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass man uns etwas Absurdes eingetrichtert hat“ (Melanie Joy).
Letztendlich schaffen die drei Ns eine Rechtfertigung, um eine befürchtete aufkommende Unsicherheit abzufedern und Menschen vor der Wahrheit zu bewahren. Diese hilft ihnen, in bekannte Strukturen zurückzukehren, sollten Fakten an sie getreten sein, die den Karnismus aufdecken könnten.
Das zeigt, dass wir für alle Tiere unsere Wahrnehmung anpassen und sie als vollwertige Lebewesen ansehen sollten. Kein Tier hat es verdient, in der Kategorie „Nutztier“ zu verbleiben, weil die Gesellschaft es irgendwann als praktisch und profitabel empfunden hat. Wir sollten anfangen, es auch als unangemessen, ungerecht und falsch anzusehen, Kühe und andere Tiere zu essen und erkennen, dass sie genau so liebenswert, intelligent und wertvoll wie Hunde sind.
Daher möchte ich dir Argumente liefern, mit denen du gegen die drei Ns ankommst.
Das erste „N“: „Fleisch essen ist normal“:
Fleisch ist gesellschaftlich anerkannt und wurde schon „immer“ gegessen. Diese Argumente haben in einem moralischen Diskurs keinen Bestand, da etwas, das schon immer so gemacht wurde, nicht bedeuten muss, dass dies auch richtig und gut ist. Auf der Welt gibt und gab es schon immer Gewalt, Vergewaltigung, Krieg, Versklavung, Rassismus, Unterdrückung und andere Verbrechen. Diese furchtbaren Praktiken werden heutzutage, im Gegensatz zum Morden von Tieren, als nicht tolerierbar und verabscheuungswürdig angesehen. Schließlich haben sich Denkmuster und Einstellungen, aber vor allem Rechte geändert, die diesen Praktiken entgegenstehen. Zudem wurden Tiere in der Vergangenheit selbst geschlachtet und gejagt. Das ist für die meisten Menschen im Gegensatz zum Verzehr nicht mehr normal. Der Karnismus wird bewusst verdeckt gehalten, da er nur durch Gewalt weiterbestehen kann, die, aufgedeckt, schwer zu ertragen ist. Somit gilt es als normal anzunehmen, dass der Schmerz von Tieren objektiv messbar sei. Karnistische Vorgaben beeinflussen uns in verschiedensten Lebensbereichen. Die Annahme der Normalität des Fleischessens ist daher vorhersehbar, weil sie als scheinbar einzige Möglichkeit gilt. Der Gang des karnistischen Weges ist in der Gesellschaft nicht nur normal, sondern auch der Weg des geringsten Widerstandes, der geringsten Anstrengung und vor allem der Weg der Mehrheit. Doch ist er aus tierethischer Sicht nicht normal oder richtig. Normalität ist immer relativ. Sollten wir da nicht die Intelligenz besitzen, diese immer wieder zu hinterfragen und für jede Generation oder jeden Umstand anzupassen?
Das zweite „N“: „Fleisch essen ist natürlich“:
Dies wird vor allem mit der geltenden Auffassung begründet, die besagt, dass es ein Bedürfnis des menschlichen Wesens sei, Tiere zu essen. Doch der Mensch ist ein Kulturwesen. Essgewohnheiten, Traditionen und Bräuche sind geschichtlich und kulturell abhängig und aus diesem Grund wandel- und veränderbar. Die Art der Fleischbeschaffung, die Menge des Fleischkonsums und die damit einhergehende Behandlung der Tiere hat sich gewandelt. Die heutige Nahrungsaufnahme kann nicht mit der von vergangenen Kulturen verglichen werden, bloß um das Essen von Tieren zu rechtfertigen. Die strukturellen Veränderungen werden bei dem Erhalt des Fleischkonsums außer Acht gelassen. Ironischerweise ist der Verzehr von Tieren in der heutigen Gesellschaft alles andere als „natürlich“. Die Industrie und die Forschung haben Tiere, die heutzutage gehalten werden, soweit manipuliert, dass tatsächlich nur noch ihr Gehirn, und damit ihre Gefühle und Gedanken, unverändert geblieben sind. Die Geschwindigkeit der Fortpflanzung und des Wachstums wurde erhöht, der Stoffwechsel verändert und einige natürliche Eigenschaften weggezüchtet. Die Nahrung, die Tiere unter unnatürlichen Bedingungen vorgesetzt bekommen, besteht aus verschiedensten Hormonen, Zusatzpräparaten und Medikamenten. Zudem kann der manipulierte, frühzeitige und vermeidbare Tod von Lebewesen und die Gefangenschaft nicht als natürlich angesehen werden. Wie kann da noch behauptet werden, dass es natürlich ist, an Heiligabend, dem Fest der Liebe, eine hochgezüchtete Stopfleber einer wenige Monate alten, importieren Gans auf dem Teller, fertig angerichtet, zu essen?
Das Problem der Naturalisierung besteht darin, dass geltende Strukturen mit Natürlichkeit gerechtfertigt und ersetzt werden. Dafür werden Argumente aus der Geschichte, der Wissenschaft und der Religion herangezogen. Aus Teilausschnitten der Geschichte, biblischen Vorgaben und biologischen, veralteten und überholten Grundlagen wird ein Konstrukt erschaffen, welches die Ideologie unantastbar macht und den Eindruck erweckt, als zeige die Natur keine Alternative auf. In der Rangfolge der Lebewesen hat sich der Mensch an die Spitze gesetzt und sich über alle anderen Lebewesen gestellt. Die tatsächliche natürliche Nahrungskette der Lebewesen wird dabei außer Acht gelassen. Eine Kette besitzt keine Spitze und würde in der Natur nicht von Menschen beherrscht werden, die „von Natur aus“ nicht als Karnivoren geboren sind.
Das dritte „N“: „Fleisch essen ist notwendig“:
Die Überzeugungen, dass Fleisch essen normal und natürlich ist, bilden die Grundlagen für die Notwendigkeit des Fleischessens. Somit scheint es unausweichlich zu sein, dass Fleisch gegessen wird. Die Gesunderhaltung und das Überleben des Menschen werden in dem Verzehr von Tieren gesehen. Aufgrund dessen scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, als Tiere zu verzehren, wenn der Mensch nicht aussterben möchte. Die Notwendigkeit, Tiere zu töten, wird auch mit wirtschaftlichen Aspekten und Umstrukturierungen der Rahmenbedingungen begründet, die sich ändern, sobald keine Tiere mehr gegessen werden würden. Doch das Wissen darüber, dass ein Überleben ohne tierische Produkte nicht nur möglich, sondern auch gesünder sein kann, herrscht bereits vor. Dennoch bemühen sich die Akteure des Systems das Gegenteil zu vermitteln und unterstreichen den Mythos der Notwendigkeit des Fleischverzehrs. Diese Notwendigkeit ist in Zeiten der Vielfalt an leicht zugänglichen pflanzlichen Lebensmitteln und der Möglichkeit der freien Entscheidung des Einkaufs irrelevant geworden. Wir müssen kein Fleisch mehr essen, um zu überleben, könnten neue Formen des Zusammenlebens schaffen und den Tieren ihren ursprünglichen Lebensraum wieder geben. Wir leben in keiner Notsituation und können uns mittlerweile auf schnellstem Wege auf verschiedenste Arten mit pflanzlichen Lebensmitteln gesund halten. Der Geschmack von Fleisch ist ein Faktor, den viele Menschen fälschlicherweise mit der Notwendigkeit des Verzehrs zusammenbringen. Dazu gibt es hier einen eigenen Beitrag. Nur so viel vorab: Es muss uns klar sein, dass der Geschmack auch etwas Erlerntes ist, der unsere Gewohnheiten unterstreicht und beeinflusst. Wollen wir für einen Geschmack, der hauptsächlich von Gewürzen und Kochkünsten abhängt und nicht von dem toten Tier, und der wenige Sekunden andauert, wirklich noch die Notwendigkeit des Tiere-Umbringens anbringen?
Was muss sich ändern?
Der Karnismus wird von der Werbung und den Medien aufrechterhalten. Kadaver werden als Rohstoff, Produkt oder Lebensmittel dargestellt und Tiere dadurch verdinglicht und entindividualisiert. Mediale Darstellungen tierischer Lebensmittel lenken die Aufmerksamkeit auf Bilder und Produkte von glücklichen, lächelnden, auf der Wiese stehenden Tieren in Freiheit. Tierische Produkte werden als genussvoll, leidfrei, gesund und selbstverständlich inszeniert und führen zu einer Illusion, die die Fleischindustrie als vertretbar darstellt und die den Verzehr tierischer Produkte weiterhin als selbstverständlich gelten lässt. Der Karnismus wird als Synonym der Rechtfertigung und Legitimierung des Tötens verstanden, wodurch die Hinterfragung verhindert und Emotionen wie Reue, Schuld oder Empathie gegenüber den Tieren nicht transportiert werden.
Das Handeln nach den Drei Ns könnte eine Erklärung dafür sein, warum Menschen auf der einen Seite Tiere grausam behandeln und das System unterstützen und auf der anderen Seite Menschen, die gegen die Grausamkeit des Systems kämpfen, verurteilen und stereotypisieren.
Daher liegt es auch an uns, eine Sensibilisierung und Aufdeckung des Karnismus herbeizuführen. Die Wahrnehmung kann sich nur verschieben, wenn die Überzeugung des Karnismus bröckelt. Dies braucht für unser Gegenüber Geduld, Ruhe und klare Fakten. Wir sollten auf die unterbewusste Diskriminierung gegenüber Tieren aufmerksam machen, damit Einstellungen in Frage gestellt werden, das System angezweifelt wird und die moralischen und ethischen Errungenschaften in eine Richtung gelenkt werden können, die Empathie und Gleichberechtigung für alle Lebewesen fördern.
Lesenswertes:
Joy, M. (2018). Warum wir Hunde lieben – Schweine essen – und Kühe anziehen – Karnismus – eine Einführung (8. Auflage). Münster: compassion media.
Mannes, J. (2017). Die gesellschaftliche Konstruktion des Fleischkonsums – und die Formierung des Karnismus-Habitus. Soziologiemagazin, 10 (1), 13-32. 10.3224/soz.v10i1.28498
Tuider, J. (2013). Dürfen wir Tiere essen?. Internationale Zeitschrift für Analytische Philosophie, 88, 269-280.
Schulte, C. (2019). „Wenn du es nicht ansehen kannst, solltest du es auch nicht essen“ Die Wahrnehmung von Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen bei Fleischkonsumenten. Corporate Communications Journal, 4, 7-11.
Sezgin, H. (2014). Artgerecht ist nur die Freiheit – Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (3. Auflage). München: C.H. Beck.